Sonntag, 24. Juli 2016

Tipps vom 18.07. - 24.07.2016



TANGERINE L.A. - Es knallt und zischt, zu sehen ist...recht viel! Sean Baker transportiert uns ungebändigt in das Los Angeles von heute und hängt sich zentral an das Zentrallose jener Metropole an, in welcher sich verschiedene Kulturen zu einem Schmelztiegel aufreizender Farbfreude ballen. Wo nicht gerade selten Crime-Formate und Co. den verbrecherischen Moloch innerhalb jener Verhältnisse zeichnen möchten, hat Baker zwar keine Scheuklappen auf, doch in jenen Gegebenheiten von Prostitution, zwischenmenschlichen Konflikten, Crack, Obdachlosigkeit und Hass ist der moralische Hinweis nicht mehr nötig, stattdessen der Mut zur Selbstverständlichkeit, der Kraft und Zärtlichkeit auf den Straßen neben jenem, was man im Allgemeinen unter Hollywood versteht. Die Persönlichkeiten via Transgender und Drag hauen da schon schnell in die Tasten, tragen die Varianz sexueller wie persönlicher Orientierung stolz wie wütend am Horizont der Großstadt lang, während die Kameraarbeit auf dem iPhone Farben sprießen lässt, in hohem Energieton an der Nähe schraubt, während sich der letzte Schrei an pumpender Musik mit klassischen Tempi verknüpft - L.A., schieß' mir deine Überstimulation in die Blutbahn! Dementsprechend beginnt eine Odyssee für die Working Girls vermengter Geschlechterrollen, Sin-Dee Rella (Kitana Kiki Rodriguez) und Alexandra (Mya Taylor), nachdem letztere ihrer Freundin aus blankem Zufall von den Affären des Boyfriends/Pimps erzählt hat, dessen Betthäschen es nun zu fangen gilt.


Beziehungsstatus ist eben auch hier noch voller Gewichtung, was durchaus einige ironische Differenzierungen im Areal ungezwungener Unkonventionalität hervorbringt. Parallel dazu lernt man nämlich auch den armenischen Taxi-Fahrer Razmik (Karren Karagulian) kennen, der nicht nur einen guten Querschnitt an Lokalkolorit auf der Rückbank für den Zuschauer bereithält, sondern gleichsam individuelle Sorgen und Vorlieben mit sich bringt, die innerhalb des Alltags ihre aufregenden Turbulenzen mit sich bringen, letzten Endes aber noch von seinem Familienleben daheim konterkariert werden. Die bewährten Konzepte der Menschheit können sich eben nicht im Farbenrausch der Individuen entwerten, denn inmitten des oberflächlichen Zynismus des Undergrounds lebt das Ich nun mal nicht vom Ego allein. Manche wollen sich das noch einreden und besitzen entsprechende Toughness im Umgang mit Mitmenschen derselben vergessenen Klasse, doch ohne Liebe und Freundschaft könnten sich diese Persönlichkeiten erst gar nicht bilden, insbesondere dann, wenn aus ihnen gescheiterte Existenzen entstehen: Es gibt immer einen Hintergrund - zumindest eine Enttäuschung, die einem jedem angeborenen Herzen zugefügt werden kann und anhand derer Baker nochmals deutlich macht, wie offen er die dargestellten Verhältnisse anspricht, ohne zu dämonisieren oder zu romantisieren.


Bis zu jener Schlussfolgerung hält er jedenfalls an einer Authentizität fest, die ihre Wildheit nackter Zwischenstationen mit Laien und Kleindarstellern füllt, an den Haaren der Unvergleichbarkeiten zehrt, wenn Sin-Dee so grell nach Rache dürstet und Alexandra fast jeden zu ihrer Gesangsperformance im Club einladen will - nur die wahren Freunde werden auftauchen, es sind zwar nicht allzu viele, manche waren es vorher noch nicht mal und doch sind sie da. Das Netz sowie das Wesen L.A.'s führt eben alle Konstellationen zusammen und findet die Euphorie in jenen beinahe schon schlichten Prozessen und kleinen Gesten, die aus den Oberflächen an der Lust for Life für Verständnis bar jeder Sentimentalität sorgen. Kein Wunder aber, dass da selbst das Intime gleich von mehreren Seiten überrannt wird, im Donut-Laden einen Showdown anzettelt, an dem Nachtleben und Traditionen ihre Hörner stoßen und dennoch bereits allesamt miteinander verwickelt sind, als Konglomerat von Außenseitern gleichsam eine Einheit der Reibung bilden. Deftigkeiten von Anspruch und Vertrauen sowie die Vernunft von Perversion und Moneten-bedingter Ausbeutung kreuzen sich zum regelrechten L.A. Crash, ohne per Gewalt zusammenzucken zu lassen oder den Abzug des Mundwerks zu lockern. Nicht, dass Regisseur und Koautor Baker da selbst aus dem Konzept kommt, eher holt er aus einer objektiv gesehen trivialen Situation die bittere Pille diffuser Verständigung heraus, die sich nicht ernst nehmen muss, um kapiert zu werden, wohlgemerkt auch keine Pauschallösung anbieten muss.


Dennoch kann er es teilweise nicht vermeiden, an Subtilität zu sparen, was einigermaßen seinen Charakteren angepasst ist, in der Überspannung dessen an allen im Ensemble aber schon manches vorwegnimmt. Das Intime wird nun mal überrannt und wenn dies permanent der Fall ist, muss man beinahe um Routine fürchten, obwohl die Kontraste so breit gefächert aufeinander treffen. Dies lässt sich immerhin relativieren, wenn man die Charaktere auf der Quest nach dem Gegenüber als Ruhepol oder Ort der Befriedigung/Geborgenheit begleitet und merkt, wie solch Bodenständigkeiten übertönt werden. Das Tempo lässt sich nicht ausbremsen und das wäre nur konsequent, wenn sich Baker eben nicht der Präsenz der Konflikte bewusst wäre. Das ist die Crux bei einem Film, der potenziell als Zeitkapsel des Übergangs zur unbedingten Toleranz und herzlichen Anarchie stehen könnte, so dass die Dramatisierung daran zwar stimmig bleibt, aber auch frustrieren kann, inwiefern sich der mangelnde Fortschritt in der Realität daran reflektieren lässt (dazu bleiben auch die Fragen: Wann muss etwas selbstverständlich werden und wann ist jener Status eine Hürde zum Weiterkommen?). Man könnte auch sagen, dass man es dem Film wünscht, nicht mehr zweifeln zu müssen. Das ist aber weniger seine Schuld, viel mehr ist es einfach das Wunschdenken des Zuschauers, am nächsten Schritt des Friedens ankommen zu wollen, während andere noch die Gewöhnungsphase sowie den Streit der versammelten Welt hieran erfahren. Irgendwie weiß ja niemand, wohin es irgendwann gehen wird, doch wie so viele alte Weisheiten stirbt die Hoffnung zuletzt, erst recht nicht, wenn sie konstant das Neue ballen lässt.




STAR TREK BEYOND - "[...] Das Abenteuer eines Mysteriums erhält hier in horizontal kurvender Beobachtung eine Atmosphäre, die selbst in ihren Optionen des gewissen Endes nicht der ultimativen Skepsis anheimfallen will, obgleich gerade Kralls Domizil in seiner Orientierungslosigkeit von allein schon für Gewalt zu sorgen scheint. Die Abkopplung wird zwar sein Mittel, die Vergänglichkeit der Einheit als Schwäche hinzustellen und diese in die Ecke gezwängt um ihren Lebenssaft zu bringen, doch solch brutale Segregation wird auch blind gegenüber dem Widerstand im Innern. Das Gleichnis zur aktuellen politischen Lage ist nicht schwer zu entziffern, auch wie der Film Vorbildcharakter für die Konfliktbewältigung für sich zu beanspruchen versucht. Der Warp zur Prätension passiert aber nicht, so stimmig er dies aus der Essenz der Vorlage schöpft und ohnehin jede Überschwänglichkeit durch Taten und Spannung vermeidet. [...]"


(Die komplette Kritik gibt es auf CEREALITY.NET zu lesen.)




BFG: BIG FRIENDLY GIANT - "[...] Der Liebhaber der Plansequenzen bittet sodann zum Kombinationstanz an Einzelmomenten à la Rube-Goldberg-Machine, während Sophie als kleines Wesen gegen die Größe unwirklicher und doch wirkungsvoller Dimensionen zu bestehen hat. [...] Es bewegt, wenn die Lebendigkeit im Menschen und jene in einer Figur aus technischer Kreation (sowie deren Skelett Rylance) ergänzend zueinander einstehen, gemeinsam in die höheren Sphären des bisher Unerreichbaren vordringen und Träume ballen, mixen und verteilen. [...] Der Weg zum Mut ist aber kein behaupteter, so sehr sich das Große um das Kleine kümmert, die Sicherheit in der Distanz sucht, obgleich die Freundschaft untrennbar verbleibt, deren Herzen sich über die Ozeane hinaus hören und auch allmählich alles auf Augenhöhe sehen können. [...]"


(Die komplette Kritik gibt es auf CEREALITY.NET zu lesen.)




DIE RATTE - Wo die wilden Kerle wohnen? Tja, innerhalb des zeitgenössischen Kinos wollen scheinbar nur wenige Vertreter heraus filtern, wer als Mann für genuine Kernigkeit einstehen kann, ohne zum Macho zu mutieren. Jene Balance kommt zudem so oft und schnell ins Kippen, dass der Sexismus vom Autor bis zum Narrativ durchgewunken wird, so dass beim Zuschauer auch kaum noch Interesse besteht, ehrliche Promiskuität erleben zu dürfen. Dass es auch anders geht, stellt ein Klaus Lemke bereits seit einigen Jahrzehnten fest, so wie er sich amerikanischen Vorbildern geschuldet in die farbigeren Milieus Deutschlands umschaut, um wahre Leinwandhelden auf der Straße zu finden. Sie haben die Hormone ungeniert am lockeren Gürtel hängen und haben den Schlag weg beim sie anziehenden Geschlecht, doch jene Macker degradieren ihre Konspirateure der Lust nicht, so abgeklärt sie voneinander abhängig sind und doch nicht immer an der Treue verbleiben können, wenn sie „immer der Musik nach“ gehen und sich von der Selbstversorgung lenken lassen - ganz gleich, ob Mann oder Frau. Im Fall von „Die Ratte“ wird letztgenannte Kategorisierung anhand von Lollo (Lilo Wanders) ohnehin diffus im Kreis an Selbstverständlichkeiten gestaltet, wie sich dies auch an der Neigung zur freien Dramaturgie bestätigt, welche in der Filmographie Lemkes durchweg gegen den Konsens vorschlug. Diese arbeitet auch hier nicht darauf hin, eine idealisierte Motivation zum Siegerkomplex zu erfüllen, stattdessen holt der Film zur Charakterstudie aus, welche den Kreislauf an Losern in dem Zustand beobachtet, der wie gewonnen, so zerronnen an die Spannung der Lebendigkeit appelliert. Dass er dafür allerdings in die Western-Stadt St. Pauli anno 1993 einsteigt, gibt dem Ganzen nochmal eine Deftigkeit auf den Weg, die von Mechanismen Gebrauch macht, in welchen Durchsetzungsvermögen eher den Ton angibt als Moral.


Eben nahe dem Underground und doch kein abstoßender Sündenpfuhl, in dem man sodann dem „finsteren Ficker“ Sven (Thomas Kretschmann) begegnet, der sich selbstbewusst wie schnoddrig seinen Weg durch Hamburg bahnt, innerhalb eines Tages einen 7500-DM-Porsche zu krallen, um womöglich ein Statussymbol zu erlangen oder um abzuhauen - viele Zwischentöne deuten auf beides hin. Obwohl das Geld eine wichtige Rolle dabei spielt, lässt er dennoch (wie andere auch) manch 100er einfach so in die Luft oder in den BH flattern. Die Vergänglichkeit ist wohl ebenso eine Gewissheit, inwiefern das Rad des Lebens auch ohne die hier vorgestellten Player weiter am Laufen bleiben wird, der Techno-Beat im ständigen Strom von allen Ecken aus mit fließt. Der Reiz in diesem turbulenten System wird sodann die spontane Anlaufstelle für Svens Bruder Ricki (Marco Heinz), der alles stehen und liegen lässt, um in ungewisser Faszination was vom Schnack des Größeren aufzugreifen. Der wiederum geht zunächst nur widerwillig darauf ein, pendelt aber auch zwischen familiärer Bindung und Selbstbeweis, wenn Mutproben, Weisheiten sowie Kabbeleien an der Odyssee geübt werden, als wäre Bruder Ratte als Lehrmeister vom Format Raubkatze her instinktiv unterwegs. Dennoch lässt er nichts unversucht, um den Kleinen in den vernieselten Ecken zumindest kurzzeitig loszuwerden, woran dieser durchaus die bitteren Pillen der Enttäuschung zum Kennenlernpreis herunter schlucken muss, aber auch auf eigene Faust derjenige zu sein versucht, der er schon immer sein wollte. Er gibt den Draufgänger und hält sich bei nackten Frauen trotzdem die Augen zu, schreckt vor Küssen zurück, wie noch das Kind in ihm weilt und Lemkes Film an sich auch nicht gewillt ist, auf die harte Tour aufzuräumen.


Obgleich Kameragestaltung und Schauspiel trotz Laieneinsatz noch weit kontrolliertere Züge annehmen als spätere Werke, findet die Milieu-Hatz ihre Leichtigkeit binnen authentischer Typen im Alltagsumgang voller Abgebrühtheiten, bei denen die Romantik des Spontanen aber bestimmt noch nicht abgestorben ist - man bemerke allein das Spiel mit der Cowboy-Bardame (Andrea Heuer), welche zunächst die Bullen auf unser Duo hetzt und doch zumindest noch die Gesellschaft von Ricki schätzt. Später wird er auch Eindruck machen bei Svens auch nicht gerade viel älteren Dealerkumpels, die mit ihm zusammen in Videoclip-artiger Hypnose aufs Feuer zugehen und von der Initiation verkünden, dass die Tür nur nach innen aufgeht, eine Sache für harte Jungs ist. Sex und die Latte spielen da natürlich auch entscheidende Rollen, an denen es auch zum Bruch kommt, wenn Sven den Beweis der Männlichkeit fordert. Loser machen sich gegenseitig fertig, wenn der Frust zu hoch steht, da folgt die Rache auf schnellem Fuß, im Verlauf des Tages immerhin auch die Versuche der Versöhnung, wenn denn andere Mitmenschen nicht noch eher für Signale der Enttäuschung sorgen oder eben mit Herz und Seele an der Hoffnung mitschrauben. Dies bietet sich durchaus in einem Format an, das manch einer vom Tempo her passiv an tieferen Werten vorbei segeln sieht und ohnehin nicht so auf die Gewichtung dramaturgischer Entscheidungsmomente setzt, anhand derer man nur einen Film draus erkennen könnte. Stattdessen aber ziehen die Wahrheiten der Straße, die als solche auch gar nicht mal forciert vom Film angenommen werden, als zischende Spruch-Raketen von Saloon zu Saloon, rennen ohne weiteres unter hupendem Geheule quer über die Reeperbahn und sind nicht ohne Grund „Schnellspritzer“, diese geilen Versager wie jeder von uns.

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